Autobiografie von Marlon Velasquez

Marlon mit seinen Geschwistern, Dorian und Ismar.

Mein Name ist Marlon Velasquez. Ich war 4 Jahre, mein Bruder Ismar 3 Jahre und meine Schwester Dorian 5 Jahre alt, als meine Mutter das Haus verliess. Wir kannten weder die Gründe, noch haben wir danach gefragt. Unser Vater beschloss, sich um uns drei zu kümmern. Er war dafür zuständig, das Haus zu putzen, die Wäsche zu waschen, zu kochen und uns gleichzeitig zur Schule zu bringen. Er brachte meinen Bruder und mich in den Kindergarten und meine Schwester in die Grundschule.

Mehrere Jahre lang hat unser Vater versucht, uns das zu geben, was wir brauchten. Er hat uns beschützt und uns mit Liebe und Tatkraft, aber vor allem mit Liebe erzogen. Lange Zeit ermöglichte er uns eine Ausbildung, aber dann kam die Zeit, in der wir alle drei auf eine höhere Schule gehen wollten und er uns nur mit der Grundschule unterstützen konnte. Das war der Moment, als wir ihn baten, uns zu helfen, eine weiterführende Schule zu besuchen. Aber er sagte uns, dass er das aus Geldmangel nicht könne und das die Grundschulausbildung das sei, was er uns anbieten könne.

Aus diesem Grund verliess ich im Alter von 13 Jahren mein Zuhause, um einen Weg zu finden, mein Studium fortzusetzen. Ich lebte bei verschiedenen Familien in Tegucigalpa, der Hauptstadt von Honduras. Das war sehr schwierig, denn ich musste arbeiten, um von Tag zu Tag zu überleben, ohne jemanden zu haben, der mich bei der Verwirklichung meiner Träume unterstützt.

Weg zur NPH Familie gefunden

Jeden Morgen ging ich hinunter zum Gemüsemarkt, wo die Frauen ihren Wocheneinkauf machten. Ich half ihnen, ihre Taschen zu tragen, um ein paar Cent zu bekommen, damit ich über die Runden kam. All das tat ich drei Jahre lang, bis ich eine Frau namens Doña Yolanda kennen lernte. Sie bot mir einen Job und die Möglichkeit an, zu studieren. Aber es war kompliziert, weil ich keine moralische Unterstützung hatte, die mich ermutigte, weiterzumachen. Bis Doña Yolanda mich eines Tages fragte, ob ich in einem Kinderdorf mitarbeiten wollte. Da traf ich Reinhart Koehler und Pater Rick, die mir von ihrer Familie erzählten. Zunächst hatte ich Angst und beschloss, meinen Bruder Ismar vorauszuschicken, um zu sehen, wie es bei der NPH Familie aussah.

Ich bekam die Gelegenheit, diese Familie persönlich kennenzulernen. In diesem Moment wurde mir klar, dass dies die Familie war, die ich suchte, und der Ort, an dem ich meine Träume erfüllen konnte. Ich erinnere mich an Reinharts Worte, als er mir sagte, dass sie mich nie aus der Familie nehmen würden, egal was passiert. Eine Familie für immer. Ich beobachtete, wie alle Erwachsenen Tanten und Onkel genannt wurden. Von den Kindern, die sie mir vorstellten, sagten sie mir: Das ist dein Bruder, das ist deine Schwester. Vom ersten Moment an, fühlte ich mich sicher. Ein paar Tage später sagte mir Reinhart, dass ich der Älteste sei und bat mich, auf die jüngeren Kinder aufzupassen. Es war sehr interessant, weil ich Verantwortung entwickelte und es mir half, den Individualismus zu vergessen, den ich mir in den Strassen von Tegucigalpa aneignete.

Vorbereitung zur Leiterschaft

Der Gedanke, zu studieren, begann in meinem Kopf zu verblassen, weil ich eine monatliche finanzielle Unterstützung erhielt. Eines Tages sagte Reinhart zu mir, ich solle mich vorbereiten, weil ich anfangen würde zu studieren. Ich sagte nein, weil NPH mich finanziell unterstützte. Aber Reinhart „Tio Richard“ entgegnete mir: „Ich bitte dich nicht. Ich sage dir, dass du studieren wirst, denn Bildung ist nicht verhandelbar“.

In der ersten Phase meines Lebens bei NPH war das, was mein Leben am meisten veränderte, die Beziehung, die ich zu Reinhart und den anderen „Pequeños“ und „Pequeñas“ hatte. Als Teenager erinnere ich mich an meine Krisenmomente und daran, dass Reinhart wie ein Vater da war. Bei einer Gelegenheit sagte er mir, dass er immer dasselbe wollte, egal was ich getan hatte, was ich tat oder was ich tun würde. Das hat mir geholfen, für meine Ziele zu kämpfen. Reinhart hat mich gelehrt, mich selbst auf positive Weise zu lieben, mich mit meinen Stärken und Schwächen zu akzeptieren. So endete mein erster Teil der High School.

Der zweite wichtige Zyklus in meinem Leben ist die Begegnung mit Padre Wasson, der mich einlädt, seinem Beispiel zu folgen. Meine Ausbildung bei ihm war nicht nur akademisch, sondern auch sehr spirituell. Er lehrte mich wahre christliche Liebe und dass wir bei NPH dazu berufen sind, bedingungslos für andere da zu sein. Er war sehr darauf bedacht, dass ich glücklich bin, aber auch, dass ich das nötige Rüstzeug habe, um in diesem Leben zu überleben.

Höhere Ausbildung und Einsetzung als Direktor NPH Nicaragua

Er gab mir die Gelegenheit zum Studium in den USA, im Bundesstaat Arizona. Ich habe ein Jahr lang Englisch gelernt. Dann studierte ich am Yavapai College und wechselte in der Folge an die University of Northern Arizona, wo ich mich in Psychologie und Sozialarbeit investierte. Ich habe meinen Abschluss im Jahr 2000 gemacht, immer in Begleitung von Padre Wasson.

Während meiner Studienzeit bat mich Padre Wasson, mich nicht von Gott abzuwenden und darum zu beten, dass er mich auf meinem Weg begleiten möge. Die Universität hat mich gelehrt, kritisch zu denken und Entscheidungen zu treffen.

In Begleitung von Padre Wasson nahm ich an den Eröffnungen von NPH Guatemala und NPH Nicaragua teil. Diese Momente waren die Erfahrungen, die es mir ermöglichten zu verstehen, was er mit der Familie wollte.

Ich hatte das Glück, der letzte Nationaldirektor zu sein, den Padre Wasson eingesetzt hat. Seitdem arbeite ich bei NPH Nicaragua. Derzeit arbeite ich hier seit 16 Jahren als „Hermano mayor“ (grosser Bruder) der Familie.

Anekdote: Auf dem Mangobaum

Reinhart bemühte sich sehr darum, mich vom Leben im NPH Kinderdorf zu überzeugen. Aber ich glaubte ihm nicht, weil ich Gerüchte gehört hatte, dass bei NPH den Kindern Organe entnommen werden. Ich hatte Angst und wenn Reinhart nach mir suchte, versteckte ich mich in den Zweigen eines Mangobaums. Alle hielten nach mir Ausschau. Erst wenn Reinhart weg war, kletterte ich vom Baum hinunter.

Einmal war mein Bruder Ismar in Schwierigkeiten und hatte genug, von einem Leben ohne Perspektiven. Er hatte von NPH gehört und mir selbst ja schon vorgestellt. Ohne lange zu überlegen, beschloss ich, ihm meinen Platz zu geben, damit sie ihn aufnehmen würden und nicht mich. Ich erinnere mich an den Tag, an dem Reinhart mich suchte. Ich erklärte ihm die Situation meines Bruders, dass er ihn mehr bräuchte als mich. Deshalb sollten sie ihn nehmen und nicht mich. Reinhart antwortete, wenn ich wolle, dass mein Bruder zu NPH komme, dann müsse ich auch kommen. Es dürfe kein Familienmitglied aussen vor bleiben. Und übrigens, alle unsere Organe blieben unversehrt.

Ich weiss nicht wie Reinhart so Vieles schaffte, denn jetzt, da ich Vater bin, weiss ich wie gross die Verantwortung ist.


* Vater Rick: Richard Frechette, ehemaliger National Direktor NPH Haiti (aktuell: Berater NPH Haiti)

* Reinhart Koehler, ehemaliger National Direktor NPH Honduras (aktuell: Präsident NPH International)